Frankfurter Rundschau,11.12.1982
Trost der Nacht
Udo Steinkes Roman ”Horsky, Leo"
Mir erschien es beinahe als Fügung: Mit gleicher Post erhielt ich die trockene amtliche Zeugenladung zu einem Auschwitzprozess und den poetischen Auschwitzroman: „Horsky, Leo“. Der Prozess findet gewiss 30 Jahre zu spät statt; der Roman konnte sicherlich erst jetzt so geschrieben werden, da sein sanfter Held, bar jeglichen unschöpferischen Hasses, behauptet, „dass es für Rache schon eine Minute später zu spät sei“ und dann sogar den Satz wagt: „Jedenfalls werde ich auch die Menschen lieben, denen die Träume ausgegangen sind.“ Das sei offenbar den „Marschbefehlerfindern“ zugestoßen. Zu jener Zeit trugen die Viehwaggons mit ihrer Menschenfracht nach Auschwitz die Riesenaufschrift: ALLE RÄDER ROLLEN FÜR DEN SEIG – eine denkwürdige Umschreibung für den industriellen Mord.
Der Roman handelt, aus der humanen, also auch humorfähigen Sicht der gemarterten Opfer, von der „Tötungslust“ und der „ Dankbarkeit der Mörder“, die, zu Tode erstarrt, auch des Lachens unfähig wurden. Erich Fromm hat solch extrem unlebendige Folterknechte und Tötungsmaschinen in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ als – im klinischen Sinne – sadistisch bzw. nekrophil (leichensüchtig) beschrieben: es handelt sich also immer um Menschen und nicht um mythische Monster.
Ich schreibe über dieses Buch, das mich so bewegte und zahllose eigene vergleichbare Erlebnisse, Assoziationen weckte, aus sehr subjektivem Empfinden: war ich doch selbst jahrelang Auschwitzhäftling ( mit der eintätowierten Sklavennummer 69 912); der Roman entspricht meiner Sicht der Dinge, deckt sich mit meinen Erfahrungen. So schreibe ich, da nahe beteiligt, fernab vom Streit der Literaturkritiker, der sogleich über dieses neueste Steinke–Werk entstand.
Held des Romans ist ein jüdischer „Wunderkneter“ mit biophilem (lebensfreundlichen) chassidisch–frohen Urvertrauen, der als KZ–Haussklave das junge ahnungslose Weib des mörderischen bayerischen SS–Biedermannes heilsam durchwalkt, was vielfältige Folgen hat. „Horsky hatte sein Handwerk mitgebracht, das Massagehandwerk. Und mit ihm wurden also seine Gesellen, die zehn Finger seiner Hände, verhaftet.“
Der Autor Udo Steinke beherrscht die Kunst, in knappen Worten, oft nur in einem einzigen Satz, eine ganze Welt zu spiegeln: Mittels der „Zehn Männer“ seiner „Wunderhände“ verhilft Horsky einem Priester zur Flucht nach Rom. Doch der „Stellvertreter“ , Papst „Pius der Zwölffach Nichtglaubenwollende“ misstraut dem knieend erstatteten Auschwitz–Bericht. Nach seinem Kniefall gerät der Flüchtling in die Hände der Gestapo und wird kurz darauf im Lager Auschwitz, dem Fluchtort, öffentlich gehängt. Unter Horskys Händen, nach getanem Werk, grunzt der Henker: „So ein Pfaffe -, berichtet dem Papst von unseren Maßnahmen.“
Die zum Himmel schreienden Massenmorde schrumpfen, versachlichen sich zu behördlichen (darum geheimzuhaltenden) „Maßnahmen“ ... Mit diesem Satz, dieser Aussage, ist der gesamte SS-Staat – seine Ideologie und Praxis – umrissen.
Ungemein dicht auch, gerade weil auf einen grausigen Extremfall bezogen, ist Steinkes Darstellung jüdischer Religiosität: “Einmal hockte Horsky gemeinsam mit drei Rabbinern unmittelbar hinter einem Verbrennungsofen, der wegen Überhitzung Zwangspause hatte. Die drei Rabbis saßen vor Horskys Nase und – klagten Gott an. Sie saßen über Gott zu Gericht. Sie sprachen ihn schuldig. Anschließend beteten sie, im Gebet Gott wieder in ihrer Mitte. – Es muss also im Angesicht eines Vernichtungsofens ein Gefühl von Protest geben, auch gegen eine solche Macht wie Gott. Protest gehört zur Religion.“
Gerade der kritische Dialog mit Gott, die hadernde Auseinandersetzung mit ihm in verzweifelter Lage, das Aufbegehren des ich gegen das Über–Ich – gehört zum Wesen jüdischer Gottgläubigkeit. Historisch gesehen, spiegelt sich darin (etwa im BUCH HIOB) das Loslösen des Individuums von der Nabelschnur der Gemeinschaft (Karl Marx), der Horden-Magie: der abendländische Monotheismus bricht an.
Ausgerechnet diese Szene verzerrt sich im Blickwinkel von Gert Ueding, der in der „FAZ“ den Roman nach Strich und Faden zerfleddert, zur „empörenden Verhöhnung der Opfer“ Horskys „Tränen des Lachens innerhalb der tödlichen Zäune“, sein „Lachen angesichts des Irrsinns“ , inmitten des Grauens, verkehrt sich in Uedings Sicht zu einem – Steinke unterstellten – „Gelächter über den irrsinnig Gewordenen.“
Mir fehlt der Zugang zu diesem moralinsauren Totalverriss. Wie soll ich ihn verstehen? Mir ist, als wollten die zu Tode betrübten, depressiv – gelähmten modischen Zu–spät –Rufer das zarte, seltene Pflänzchen mutspendender, sinnenfroher Lebensfreude austreten, sobald es als deutsche Prosa das Licht der bösen Welt erblickt. Ich las ein aufwühlendes Fabelbuch aus dem Ersten Kreis der Auschwitz–Hölle, zugleich ein wunderschönes Märchenbuch belebter Natur. Was dem beckmesserischen Sezierer zur Opfer–Verhöhnung gerät, erscheint mir, dem Opfer von Auschwitz, als „Trost der Nacht“.
Und da sind wir schon bei den „Simplizissimus“–Gestalten des Grimmelshausen, dem „Ulenspiegel“ de Costas, aber auch beim teufelübertölpelnden „Schneidergesöll in der Höll“, und dem „Tapferen Schneiderlein“ , der gewaltfrei die Gewaltigen besiegt, gar bei „Rübezahl“ unterm Galgen, der sich als unhenkbar erweist, was wohl keine Verhöhnung der Gehenkten bedeutet, sondern die inbrünstig mythische Hoffnung des gequälten Volkes: „Obschon ist hin der Sonnenschein / und wir im Finstern müssen sein / so können wir doch singen ... / Weil uns kann hindern keine Macht / sein Lob zu vollentbringen.“ / (Aus dem „ Einsiedel“–Lied in „Der abenteuerliche Simplicissimus“ von Grimmelshausen).
Weil Udo Steinke dem Leben sein Lob entbringt – etwas vollmundig zuweilen in jugendlichem Sturm und Drang – so werden ihm grade alle jungen Menschen folgen, denen die trostlose, Adorno trivialisierende Unmoral zum Himmel stinkt: nach Auschwitz, gar über Auschwitz, gäbe es nichts Frohes zu sagen. Selbst der düstre Todesgang des Maximilian Kolbe enthält eine frohe Botschaft...
Da ich am Tatort war, erinnere ich daran, dass Auschwitz zugleich Sklavenlager ( Arbeitsfähige) und Vergasungs–Fabrik war (vor allem: Kinder, Kranke, Alte). Im Ersten Todeskreis (er durchdrang sich mit dem Zweiten) ging es um das Leben mit dem Feind: Als Spezialist–Sklave (Fischerei) erlebte ich dort am gleichen Tag, da die SS im Wald ausgebrochene ungarisch–jüdische Kinder jagte, abschlachtete, wie die liebreizende Tochter des SS-Mannes Tran sich von dem mandeläugigen, orientalischschönen jüdischen Pariser Figaro aus meinem Kommando frisieren ließ. Das Wort Paris wurde für sie zum Märchen für Mode, Liebe, Leben: sie liebkoste ihn auf dem Boden, dort, wo sie uns – mit Wissen der Eltern – das Essgeschirr randvoll mit erstklassigem Weizengrieß füllte.
So ward sie zwiefach Inhalt unserer Männerphantasien. Als wir aßen, hörten wir die Schüsse! – Unsere frommen polnischen Armja – Kraja – Kameraden (ihre Kinder sitzen nun wohl im Internierungslager der Generals – Junta) sagten: „Was nützt nachts der SS die Pistole unterm Kopfkissen, wenn die Seelen der Kinder sie heimsuchen.“
Zum Schluss noch: Der Roman enthält Tierschilderungen wie die Passage über ein Rebenpärchen, die mich in eine andere Erinnerung zurückführten, damals, als ich noch eine Art von Försterbub war – in einem durchaus gesunden Wald. Seit Peter Rosegger und Hermann Löns habe ich so Schönes nicht mehr gelesen. Anders ist nur das Ende: das unzertrennliche Paar verkohlt in den Starkstromdrähten – und um uns ist der Geruch von Auschwitz. Der Name des Höllenortes wird im übrigen nie ausgesprochen, so wie die frommen Juden es vermeiden, Gott bei seinem wahren Namen zu nennen und ihre Zuflucht zu Umschreibungen nehmen.
Heinz Brandt
Udo Steinke: „Horsky, Leo oder Die Dankbarkeit der Mörder.“ Roman. Ullstein Verlag, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1982. 154 S. geb. 24,-DM